Heinrich Wölfflin (1864–1945) gehört zu den grundlegenden Autoren der Kunstgeschichte. Sein umfangreiches Werk, das der wissenschaftlichen Fundierung der Disziplin gewidmet ist, wird bis heute weltweit und fachübergreifend rezipiert.
Heinrich Wölfflins Gesammelte Werke (HWGW) werden in einer kritisch kommentierten Ausgabe publiziert. Das an der Universität Zürich und der Bibliotheca Hertziana – Max-Planck-Institut für Kunstgeschichte in Rom angesiedelte Editionsprojekt umfasst alle Publikationen sowie unveröffentlichten Schriften Wölfflins. Es präsentiert sein Werk erstmals in voller Breite und in seinem diskursiven Kontext sowohl in gedruckter als auch in digitaler Form.
Die gedruckten Editionsbände erscheinen sukzessive als frei zugängliche digitale Ausgaben auf der Publikationsplattform HumanitiesConnect der Bibliotheca Hertziana. Gegenüber der Druckausgabe bietet die digitale Edition eine umfangreiche Verknüpfung mit Referenzdaten, weitere Archivalien und die Volltextsuche in sämtlichen Bänden. Damit soll die Erforschung der Kunstgeschichte, Wissenschaftsgeschichte und visuellen Kultur auf eine neue wissenschaftliche und technologische Basis gestellt werden.
Erschienen
Prolegomena zu einer Psychologie der Architektur 1886 Schriften 1
Herausgegeben von Tristan Weddigen und Oskar Bätschmann
Einleitung von Gottfried Boehm, kritischer Kommentar von Giovanna Targia unter Mitarbeit von Anja Martina Eichelberger und Sonia Neagoe
Heinrich Wölfflins Dissertation Prolegomena zu einer Psychologie der Architektur von 1886 ist in jüngster Zeit wieder in den Fokus der kultur- und naturwissenschaftlichen Forschung gerückt. Gegenstand der Arbeit bildet die angenommene Fähigkeit der Baukunst, «seelische Wirkungen» beim Betrachter hervorzurufen. Diese Wirkungen will der Text beschreiben und erklären.
«Unsre leibliche Organisation ist die Form, unter der wir alles Körperliche auffassen» – so charakterisiert Wölfflin die organische Analogie, die seinem Herangehen an das Studium architektonischer Stile zugrunde liegt. Anhand der Prolegomena lassen sich die theoretischen Voraussetzungen nachvollziehen, aus denen Wölfflins Denken in seinem charakteristischen formanalytischen Ansatz hervorgegangen ist. Das Werk fordert zugleich zu einer erneuten Auseinandersetzung damit auf, wie Biologie, Kunstschöpfung und -rezeption zusammenhängen.
Renaissance und Barock Eine Untersuchung über Wesen und Entstehung des Barockstils in Italien 1888 Schriften 2
Herausgegeben von Tristan Weddigen, Oskar Bätschmann, Joris van Gastel
Einleitung von Oskar Bätschmann, Kommentar und Bearbeitung von Noemi Bearth und Karolina Zgraja.
Mit seiner Habilitationsschrift Renaissance und Barock. Eine Untersuchung über Wesen und Entstehung des Barockstils in Italien (1888) griff Heinrich Wölfflin die Umwertung des Barockstils auf. Eine Reihe von Kunsthistorikern machte sich während der Mode des Neobarock daran, den Architekturstil des 16. und 17. Jahrhunderts neu zu erforschen und zu werten, und versuchte auch in der Antike einen «Barockstil» zu definieren. Diese drei Wiederholungen sollten erlauben, eine Gesetzmässigkeit im geschichtlichen Verlauf zu erkennen. Einen solchen Einblick ins «Innere der Kunst» erklärte Wölfflin zum eigentlichen Ziel der Kunstgeschichte.
Unter den zahlreichen Versuchen der Definition eines Barockstils hat Wölfflins Schrift durch die Qualität ihrer Methode ihren hohen Rang behalten. Diese zeichnet sich aus durch beschreibende Analyse und vergleichende Entgegensetzung der Stile von Renaissance und Barock, durch den Versuch, die Gründe für den Stilwandel zu erklären, und schliesslich durch die Verifizierung der Analyse an ausgewählten sakralen und profanen Gebäuden in Rom. Mit dem differenzierenden Vergleich zwischen Renaissance und Barock schuf sich Wölfflin die Grundlage für eine Kritik des Barock, die weit über der früheren Geringschätzung steht.
Herausgegeben von Tristan Weddigen und Oskar Bätschmann
Einleitung von Wolfgang Proß, Kommentar und Bearbeitung von Elisabeth-Christine Gamer, unter Mitarbeit von Nora Guggenbühler, Anja Eichelberger und Ilka Glückselig
Heinrich Wölfflin veröffentlichte seine Studie Salomon Geßner 1889, nur ein Jahr nach seiner berühmten Habilitationsschrift Renaissance und Barock. Als einzige Monographie mit literaturwissenschaftlichem Schwerpunkt nimmt sie im Œuvre des Kunsthistorikers eine Sonderstellung ein. Wölfflin widmet sich hier dem Zürcher Dichter, Maler und Graphiker der Aufklärung (1730–1788), der schon zu Lebzeiten europaweit Ansehen genoss und als Künstler und Verleger mit Zeitgenossen wie Christoph Martin Wieland, Johann Georg Sulzer, Karl Wilhelm Ramler und Anton Graff verkehrte. Wölfflin beleuchtet die Lebensgeschichte Geßners, kontextualisiert dessen Idyllendichtungen, untersucht ihre literarischen Voraussetzungen und nimmt sprachliche Analysen vor. Hinzu kommt eine kunsthistorische Einordnung des bildkünstlerischen Schaffens Geßners.
Als Teil der neuen kritischen Edition der gesammelten Werke Wölfflins erscheint Salomon Geßner erstmals wieder und mit einer literaturwissenschaftlichen Einleitung von Wolfgang Proß, der eine umfassende Würdigung der Monographie als ein Dokument der transdisziplinären Forschung Wölfflins vornimmt. Überdies bringt Proß die Schrift mit dem zentralen Konzept der Stilgeschichte in Zusammenhang und verortet die Untersuchung in der literaturwissenschaftlichen Forschungsdiskussion des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Der kritische Kommentar erschliesst das reiche Quellenmaterial zu Salomon Geßner aus Wölfflins Notiz- und Tagebüchern. Damit leistet die kommentierte Edition einen Beitrag zur fächerübergreifenden Wissenschaftsgeschichte und zur Text-Bild-Forschung.
Herausgegeben von Tristan Weddigen und Oskar Bätschmann
Einleitung von Joseph Imorde, Kommentar und Bearbeitung von Karolina Zgraja, unter Mitarbeit von Leonora Kugler und Noemi Bearth
Mit einem neuen methodischen Vorgehen verfolgt Heinrich Wölfflin in den Jugendwerken des Michelangelo das Ziel, die frühen Werke des Künstlers anhand formanalytischer Kategorien chronologisch und stilistisch zu ordnen. Dabei bestimmt er die Bedeutung der auf Echtheit geprüften Objekte für die spätere Entwicklung Michelangelos. Wölfflin untersucht die Werke hinsichtlich ihres Ausdruckswerts und vermeidet so ihre biografische und kulturhistorische Verortung. Damit distanziert sich der junge Autor von der traditionellen Kunstgeschichtsschreibung und der etablierten Michelangelo-Forschung des ausgehenden 19. Jahrhunderts. An den Jugendwerken des Michelangelo, die an Wölfflins Habilitationsschrift Renaissance und Barock anschliessen, lässt sich die Zeitgebundenheit seines methodischen Vorgehens vor der Folie der Geschichte der Kunstgeschichte ablesen.